Endre Kiss

Hegels Anerkennung nach dem Horizont Rousseau's

(Beitraege zu der Rousseau-Hegel-Relation)

(Abstract)

Die Problematik der Anerkennung (Anerkennung, reconnaissance, thymos)

wird nach einer gewissen inneren Logik der Philosophie von Zeit zu Zeit zum Zentrum der relevanten philosophischen Fragestellungen erhoben.

Der Rhytmus dieser Bewegung, sowie die relative Konsistenz der Fragestellung gibt von Anfang an zu denken, denn in so verschiedenen Konzepten und von so unterschiedlichen Autoren wie Platón, Hobbes, Diderot, Hegel, Marx oder Kojeve konnte die Anerkennungsproblematik mit der gleichen Eindeutigkeit zur Grundlage holistischer Narrativen, wenn nicht eben zu der holistischen Narrativa selbst werden.  

In den vergangenen Jahrzehnten schaltete die philosophische Forschung auch Rousseau's Philosophie in die Untersuchung der Anerkennungsproblematik ein (ein Bespiel: Axel Honneth, Kampf um Anerkennung. 1992.) .

Rousseau's positive Anthropologie ist die systematische Grundlage, von wo aus er viele Facetten der Anerkennungsproblematik tatsaechlich ausarbeiten kann. In der allerkürzesten Formulierung besteht der Grundkonzept dieser Anthropologie in der versteckten These aus den Bekentnissen des Vikars aus Savoyen, wonach der Mensch mit seinem Schicksal nicht identisch ist. Von Hegelscher Perspektíve ist es anzumerken, dass dadurch auch eine weitreichende neue Subjekt-Objekt-Problematik entsteht.

Rousseau tut in seinem ganzen Lebenswerk viele Schritte in mehreren Richtungen in der Erschliessung der Anerkennungsproblematik im Sinne Hegels.

Im Vortrag machen wir den Versuch, Rousseau's politische Philosophie in dieser Hinsicht zu rekonstruieren. Wir gehen davon aus, dass sowohl die volonté générale wie auch die volonté de tous Konzepte der Anerkennungsproblematik ausmachen, die von Rousseau sowohl produktiv miteinander konfrontiert, wie auch als zwei Facetten desselben Zusammenhanges dargestellt werden. Dabei wollen wir die Lehren eines bis jetzt unpubliziert gebliebenen Aufsaetzes von Karl Polányi auch kritisch in Betracht ziehen ("Jean Jacques Rousseau, avagy lehet-e egy társadalom szabad?" Erste Veröffentlichung: Budapest. 1986.), in welchem er durch seine Interpetation des Rousseauschen Begriffs des Volkes in der Auseinandersetzung mit den beiden Willens- und Freiheitsbegriffen Partei nimmt.

 

Professor Dr Endre Kiss, D.Sc.

Budapest-Szombathely

Über die soziale Natur des Menschen

(Jean-Jacques Rousseau und Anerkennung)

Während Rousseau durch die radikale Optik einer in dieser Form noch nie artikulierten Gleichheit die Einrichtung der Gesellschaft unter die Lupe nimmt, eröffnet er sich gleichzeitig aber auch einen anderen Front. Mit der radikalen Kritik der Gesellschaft stellt er gleichzeitig und ebenso radikal auch die menschliche Natur in Frage. Rousseau singt das Hohe Lied von der Natur, gleichzeitig stellt er die menschliche Natur in der Gesellschaft, wenn man noch anders will, die soziale Natur des Menschen gleichzeitig grundsätzlich in Frage.

Es steht fest, dass die Anerkennungsproblematik (reconnaissance) und der Mainstream der ideologisch vereinfachten Aufklärung miteinander in deutlichem Konflikt stehen. Dieser Konflikt spielte auch in der berühmt-berüchtigten Kontroverse zwischen Rousseau und Voltaire eine massgebliche Rolle. Trotzdem stellen wir hier nicht diesen Widerspruch in den Mittelpunkt, obwohl jede ideologisch vereinfachte Aufklärung jeder Thematisierung des Anerkennungsproblems demonstrativ aus dem Wege geht.

Wir rekonstruiren hier einen Rousseau, der ein Philosoph der Anerkennung war.1 Es meint, dass die Problematik der Anerkennung in einer umfassenden Weise hinter jedem wirklich relevanten philosophischen Ansatz von Rousseau steht. Es steht aber auch fest, dass Rousseau's Philosophie in der Anerkennungsproblematik nicht ganz erschöpft. Diese Problematik ist überall bestimmend, sie lässt es aber in jedem philosophischen Themenbereich wie spontan auch zu, dass auf ihr als auf einer Grundlage von dem Contrat Social zu Emil noch zahlreiche konkret-positive Konzepte aufgebaut werden. Das bewahrheitet nun von dieser Seite aus, dass die Anerkennungsproblematik an sich keine "Theorie" im engeren Sinne ist, was auch heisst, dass die Anerkennungsproblematik eben nicht einen ganzen philosophischen Konzept bestimmt, denn sie wäre in diesem Fall gerade eine Theorie! Es ist auch eine Konsequenz des konkreten Standes des systematischen Charakters der Philosophie im achtzehnten Jahrhundert, dass diese Zweischichtigkeit mit einer relativ lockeren Verbindung zwischen der Anerkennunsproblematik und den einzelnen thematischen Ansätzen möglich werden konnte.2 Die Anerkennungsproblematik gilt also für keine Theorie oder sonst welchen zusammenhängenden Konzept, auch für keine Ideologie, sie ist (einfach nur) ein Ansatz, der von der Geschichtsphilosophie bis zu der sozialen Ontologie hin ein starkes Erklärungspotential aufweist.

Rousseaus eigene Version der Anerkennung ist eine aus den vielen Möglichkeiten. Da es kein "Etalon" und/oder kein idealer Typus der philosophischen Auffassung der Anerkennungsproblematik existiert, ist es überhaupt keine leicht zu lösende Aufgabe, Rousseau's eigene Version exakt zu situieren. Im Vergleich etwa zu Hegels Auffassung der Anerkennungsproblematik, die wegen ihrer historischen Realbedeutung stillschweigend als der ideale Typus aufgefasst wird,3 erscheint Rousseaus's Auffassung als persönlich-partikulär, ferner aber auch als psychologisch und "literarisch". Rousseaus's Lösung für dieses Problem besteht vor allem in einer Umkehr derselben. Als Lösung erscheint eine Idee, die in einem gewissen Zusammenhang das Dilemma aufhebt. Diese "Dialektik" steht jedoch ihrerseits von Hegel auch nicht mehr fern.

Ferner ergibt sich eine weitere Reihe von produktiven Vergleichsmöglichkeiten, so unter anderen die Möglichkeit, Rousseau's umfassende und universale Sensibilität für Anerkennung (und damit für Freiheit und Gleichheit) mit dem Libertinismus des achtzehnten Jahrhunderts und de Marquis de Sade, denn es ist kein Spiel mit den Worten, wenn man diesen Libertinismus als auch eine Art "Kampf um die Anerkennung" interpretiert (während Rousseau's Grundattitüde in diesem weiteren Kontext der Anerkennungsproblematik mit Notwendigkeit als anti-libertinär definiert werden muss)."4

Weil es trotz Hegel keinen idealen Typus der philosophischen Anerkennungsproblematik gibt, steht Rousseaus's Konzept unter keinem sichtbaren oder unsichtbaren Zwang von Vergleichen. Man kann doch ohne Schwierigkeiten verstehen, warum diese Problematik von Zeit zu Zeit in der Geschichte der Philosophie (der Geschichtsphilosophie, der Sozialphilosophie, der Ästhetik, der politischen Philosophie, etc.) nicht nur wiederkehrt, sondern auch unschwer in eine dominante und zentrale Konzeption kommt. Es liegt daran, dass der Anerkennungs-Entwurf ein besonders reiches heuristisches Vertikum aufweist. Der Ansatz erscheint auf allen Ebenen der untersuchten Wirklichkeit. Er reproduziert sich in jedem philosophischen Sektor, sein Vertikum bleibt darüber hinaus auch stets ein zusammenhängendes und gleichzeitiges. Es geht um seinen Komplexum-Charakter, der stets die Analysen der verschiedenen Seinsschichten und der verschiedenen philosophischen Gebiete als eine lebendige Einheit vorweist. Denn (und dafür ist gerade Rousseau das beste Beispiel) der Kampf um die Anerkennung erscheint schon in der Innenwelt der Psyche, zieht durch das ganze Medium des Sozialen hindurch, prägt das Wirtschaftliche auch tief, über die Politik oder die intellektuelle Dimension ganz zu schweigen. Es bedeutet kein unorganisches Neben- oder Übereinander. Der konkrete Ansatz der Anerkennung verbindet Komplexe, die gleichzeitig auf allen diesen Seinsschichten gleichzeitig aktiv sind und auf diese Weise eine Quasi-Gegenständlichkeit repräsentieren. Rousseau's Auffassung der Anerkennung ist darüber hinaus universal, folglich auch zerstreut, in dem sie nicht auf ein gegenseitiges Gegeneinander im Anerkennungskampf fokusiert. Daher fehlen bei ihm oft die Momente der Gegenseitigkeit im Kampf um die Anerkennung, die ja die weitere Differenzierung und Bereicherung dieses Verhältnisses des öfteren wirklich ermöglichen.

Daraus ergibt sich, dass gerade als ein Ansatz die Anerkennungsproblematik keine konkrete Theorie, kein selbständiges Gedankensystem, keine Philosophie für die Beschreibung der Realität ist, sie ist also ein Ansatz, aus welchem ausgehend eine philosophische Sichtweise, eine (nicht im Sinne Husserls genommene) Wesensschau möglich wird. Diese Wesensschau verliert jedoch ihre Integrationsfähigkeit deshalb nicht, weil ihr (die einzelnen gegenständlichen Sphären integrierendes) Vertikum mit hundert Fäden mit der Realität verbunden ist und bleibt.

Die Preisschrift über den möglichen Fortschritt durch Wissenschaft (Discours sur les sciences et les arts -Abhandlung über die Wissenschaften und Künste, 1750) machte Rousseau mit Recht berühmt. Nicht einmal im Rückblick verliert die Stossrichtung der Arbeit ihre Energie: die paradoxe und diametrale Infragestellung vielleicht der tiefsten Evidenz des achtzehnten Jahrhunderts (des Fortschritts) gilt gleich als das früheste Beispiel von Rousseaus spezifischer Wesensschau. Diese paradoxe Infragestellung der allervorherrschendsten Meinung hätte allein noch keinen genügenden Hintergrund eines charismatischen Philosophen der Zukunft bedeuten können. Denn die andere Seite der Argumentation war auch nicht weniger überraschend und paradoxal. Nicht das scheinbar im Mittelpunkt stehende zivilisatorische Potential wurde unmittelbar in Frage gezogen! Was bei der Begründung der negativen These die wichtigste Rolle spielte, war die destruktive Dimension der Zivilisation selber! Schon die ersten Zeichen des Aufkommens der Zivilisation destruieren die Lebenswelt der Natur, sie bedecken die "eiserne Kette" auf der Menschheit mit "Blumenkranz"! Es geht in keinem Sinne um irgendwelche Analogie einer Kolonisierung beliebiger Couleur! Es geht folglich nicht darum, dass die "Zivilisation" willentlich auf eine gegebene Gemeinschaft im Naturzustand einwirken und diese Einwirkung sich dann im späteren auf die Gemeinschaft des Naturzustandes negativ auswirken würde. Der Auftritt der Zivilisation ist also bereits "an sich", "ohne bewusste Willensintentionen" zerstörerisch. Diese Gemeinschaft lebt im "wilden" Naturzustand und nach Rousseau zerstört gerade die Zivilisation den Naturzustand, und zwar ohne irgendwelchen bösen Willen! An diesem Punkt würde ein klarer Widerspruch entstanden sein - entweder der Begriff des "Naturzustandes" oder der der "Zivilisation" sollte zur Geltung kommen. Hier erst kann man die wahre Bedeutung der Anerkennungsproblematik wahrnehmen. Denn es ist nicht wirklich die Zivilisation, die unmittelbar destruktiv auswirkt, sondern sie schafft einen Raum, in welchem die Menschen, die menschliche Natur im Zeichen des tief in ihnen verankerten Anerkennungswillens auf die eigene Gemeinschaft zerstörerisch auswirken werden.5

Die Bekenntnisse (Les Confessions - Die Bekenntnisse, 1782) erlauben uns eine andere Einsicht in Rousseau's Eigenart in der Anerkennungsproblematik. Dieses Werk gilt aus mehr als unter einem Aspekt als einmalig nicht nur in der Weltliteratur, sondern auch in der Geschichte des menschlichen Denkens und/oder in der der sozialen Natur des Menschen. Kein Zufall, dass selbst die Grundidee und die Initiative des ganzen Werkes als eine Gesamtreaktion auf Voltaires herausfordernde Attacken zu interpretieren sind.

Mit Recht erlebte man die Bekenntnisse als ein Werk der grenzenlosen Aufrichtigkeit, des Sich - Bloss-Stellens, die sich von den anderen Möglichkeiten der dichterischen Unmittelbarkeit darin unterscheidet, dass hier die Aufrichtigkeit der Gegenstand des ganzen Werkes ist. Das Werk erlaubt es Rousseau, seine eigene Art der Auffassung der Anerkennungsproblematik voll und ganz zu verwirklichen. Die Gattung der Bekenntnisse, mit ihrer freien Gegenständlichkeit, mit der legitimen Willkürlichkeit der Gedankenströme und mit der losen biographischen Ordnung artikuliert Rousseau's Grundeinstellung: Die menschliche Natur ist von dem Anerkennungsdrang schicksalhaft besetzt - es gibt nur eine einzige Rettung, aus der Gesellschaft hin(und her)auszugehen und die Seelenruhe in der wirklichen und symbolischen Natur zu finden. In den Bekenntnissen wird jede Schicht, jeder Problemkreis des Kampfes der Individuen gegeneinander angeführt, hier kommen die hypokritischen inneren Gesetze des sozialen und des intellektuellen Lebens, der Neid, die Eifersucht, die Intrigen, die Affekte, der Ressentiment, die Entfremdung, die Untreue voll zur Geltung, von der Einsicht, in welcher Rousseau wie sich selber kritisiert (er ging nicht zu Holbach, weil dieser "so reich" ist) bis zur zur inneren Natur gewordenen Intrige (etwa: "man attackierte mein Werk, aber durch mein Werk wollte man mich persönlich attackieren"). Die durch die Gesellschaft verdorbene menschliche Natur wird in seinen Augen stärker als die Kraft der Natur. In einem Brief an Voltaire (am 8. August 1756) sind "solche" Menschen an der Katastrophe (im Erdbeben von Lissabon!) selber schuld, weil sie sich nicht gleich von ihren Häusern geflohen sind, womit die Anzahl der Todesopfer entscheidend gewachsen ist.6

Wir haben wieder eine legitime gegenständliche Sphäre in einem Rousseau-Werk vor uns und diese Sphäre sind die Bekenntnisse eines modernen Intellektuellen. Blickt man aber hinter diesen konkreten Gegenstandsbereich, wird man wieder das schicksalhafte Walten eines Anerkennungskampfes erblicken, den man bei weitem nicht nur bei den anderen wahrnimmt, sondern auch des öfteren auch an sich selber.

Die Arbeit über den "Ursprung der Ungleichheit" (Discours sur l'origine et les fondements de l'inégalité parmi les hommes - Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, 1755) hatte eine kohärente und zusammenhängende Rezeptionsgeschichte. Nicht nur die langen Jahrzehnte der linken und/oder marxistischen Kapitel der Rezeptionsgeschichte wirkten in der Richtung aus, dass die im Werk an der Spitze thematisierte Entstehung des Privateigentums zur selbstverständlichen Entsprechung der menschlichen Ungleichheit geworden ist, diese Einsicht war schon auch in der unmittelbaren Rezeption vorherrschend. Schaut man wieder hinter diese Annahme, mit all ihren begrifflichen Ausdrücken von den Bedürfnissen, Interessen und Neigungen, wird man wieder erkennen, dass der im Anfang angeführte Zusammenhang auch umgekehrt besteht: Nicht nur die Entstehung des Privateigentums führt zu der Ungleichheit unter den Menschen, sondern auch die Ungleichheit unter den Menschen (ihre ständige Bereitschaft zum Kampf um die Anerkennung, welcher schon in sich mit auch ein Kampf um die Ungleichheit ist) zur Entstehung des Privateigentums.

Ähnlich steht es auch mit der Grundproblematik des Gesellschaftsvertrags (Du contrat social ou principes du droit politique - Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechtes, 1762.). Wenn ein Werk Rousseau's eine permanente Rezeption in den folgenden Jahrhunderten erlebte, so war es dieses Werk. Selbst aber hinter der gegenständlichen Sphäre dieses Werkes erscheinen die Elemente der Anerkennungsproblematik. Es geht in jedem Fall vom Weggehen vom Naturzustand, welcher nicht nur ein primitiver ist, sondern auch von dem Kampf um die Anerkennung durch und durch bestimmt. Das im volonté général in jedem Fall enthaltene Moment der Gleichheit erhält ihre Legitimation von der "Freiheit der Mehrheit", welche wiederum ihren Rang unter anderen auch daraus erhält, dass sie aufgrund der ersten Legitimationsstufe fähig wird, dem ständigen und selbstverständlich betrachteten Anerkennungskampf ein Ende zu setzen.7 In diesem Sinne erscheint volonté général als eine gewisse "Dialektik der Anerkennung", aus dem Schmerz des Kampfes der Anerkennung wächst ein Wille heraus, der über alle herrschen kann...

Auch der ebenfalls klassische Bekenntnis über die Erziehung, der Emile

(Émil - Emile oder über die Erziehung, 1762.) zeigt diese Problematik auf. Hinter dem enzyklopädischen Reichtum des Stoffes werden diejenigen Momente auch hier sichtbar, über die wir im Kontext der vorangehenden Werke bereits sprechen konnte. Der Emile ist ein unerschöpfliches Inventar dessen, wie Rousseau die Natur des Menschen sieht. Darüber hinaus formuliert der Vikar von Savoyen auch noch einen geordneten Fokus dieses Menschenbildes. Hinter diesem Menschenbild entdeckt man jedoch ebenfalls die Konturen eines Naturwesens, das dem Kampf der Anerkennung schicksalhaft ausgeliefert ist. Manchmal erscheint in der Erziehung auch eine Möglichkeit, die Natur des Menschen zu ändern. Auch wenn der Diskurs über die Erziehung nicht bis zuletzt auf dieser allerfundamentalsten Ebene ausgeführt wird, liefert uns das Porträt des Vikars von Savoyen bereits ein kohärentes und erfolgreiches Lebensbild, wie man sich zur Freiheit eines Lebens ohne Anerkennung auskämpfen konnte. Der klassische "Erziehungsroman" enthält unendliche Facetten von Gedanken und Einsichten, die sich mit der Erziehung zusammenhängen. Dieses Ausmass dieser Bezüge kann überhaupt nicht vergessen machen, dass es dort ebenfalls eine auffallend stattliche Anzahl von Gedanken und Einsichten gibt, die die "wirkliche" Natur des Menschen mit den "sozialen" Realitäten derselben Menschennatur vergleichen, so dass für einen philosophisch Lesenden bis zum Ende des Werkes die Anerkennungsdimension voll wahrnehmbar wird. Eine philosophische Verallgemeinerung aus den vielen möglichen Beispielen: "Derjenige, welcher in der bürgerlichen Ordnung den Vorzug der Empfindungen der Natur erhalten will, weiss nicht, was er will. Stets im Widerspruche mit sich selbst; stets zweifelhaft zwischen seinen Neigungen und seinen Pflichten, wird er niemals weder ein Mensch, noch ein Bürger seyn. Er wird einer von den Menschen unserer Zeiten seyn, ein Franzose, ein Engländer, ein Stadteinwohner, er wird nichts seyn."8

Die Kraft des Willens, den Menschen (von der Abhängigkeit des Anerkennungskampfes) zu befreien, enthält schon in jenen Fragestellungen ein extrem starkes Befreiungspotential, die an sich überhaupt nicht politisch gefärbt sind. Das genau ist der immanente Revolution in Rousseau. Diese Eigenschaft entsteht als Ausfluss der ganzen Reihe von Fragestellungen (vor allem der Anerkennungsproblematik), in denen durch die radikale Infragestellung der Grundsätze Rousseau auf einen Schlag auf dann zum Revolutionär wird, wenn er selber es willentlich nicht intendiert. Das ist ein Fall der strukturellen Revolution in konkreten Problemzusammenhängen. Ein weiteres par excellence Rousseau-Problem entsteht gerade an diesem Punkt. Durch die vollzogene strukturelle Revolution dieser Art gerät deren Protagonist - auch ungewollt - in die Situation von jemandem, der durch die Infragestellung des Bestehenden, durch diese strukturelle Revolution im konkreten Sachzusammenhang auch ein positives Versprechen vertritt, welches als die positive Kehrseite der soeben in Frage gestellten Problematik wie automatisch sichtbar wird.

 In engerem Sinne wäre es auch nicht richtig, über ein Versprechen zu reden, denn Rousseau verspricht hier nichts, er macht einen bis dahin nicht gedachten Freiheitsgrad ersichtlich. Er intoniert (ohne Versprechen und ohne explizites politisches Verhalten) eine bis dahin präzedenzlose Freiheit, die man in gewissen Kontexten auch "absolute" Freiheit (mit Gleichheit) nennen dürfte. Das hat aber wiederum weitreichende Konsequenzen, denn gewollt oder ungewollt (vermutlich anfangs ungewollt und dann immer stärker schon gewollt) setzt Rousseau Massstäbe: In jeder Fragestellung, wo Freiheit überhaupt eine Rolle spielen kann, wird es nunmehr nicht möglich, an einem anderen Punkt als eben am Punkt einer "absoluten" und "ungeteilten" Freiheit anzufangen.9 Dieses Freiheitspotential führt, wie gesagt: es könnte auch ohne die Absichten von Rousseau geschehen sein, stets zu einer generellen Infragestellung des bestehenden Gesellschaft. Und diese Einstellung eines strukturellen Revolutionärtums bewahrheitet höchst unerwartet Nietzsches Urteil über Rousseau.10

Friedrich Nietzsches positives Persönlichkeitsideal, welches zwar von Zeit zu Zeit neuformuliert wird, weist bereits entscheidende konstante Züge auf aus dem Komplex der Französischen Revolution gehört etwa die Gestalt Napoleons hierzu. Seine Kritik einer ideologiekritisch rekonstruierten Einstellung, deren gemeinsame Züge er sowohl im Christentum, wie auch in Rousseau und dem Sozialismus erblickt, stellen weitere Fragen auf. Nietzsche sieht in dieser Attitüde einen theoretischen wie praktischen Feind seines Menschenideals. Die kämpferische Einstellung Nietzsches gegen den ideologiekritischen Komplex Christentum-Rousseau-Sozialismus lag freilich schon früher gedanklich fertig vor, sie ging also seiner Anwendung an die Französische Revolution deutlich voraus. Wir kommen zum offen paradoxen Schluss, dass die Französische Revolution Nietzsche überhaupt nicht um ihrer selbst willen interessierte, sondern als eine Station in der historischen Entwicklung einer Einstellung, die er - als logische Konsequenz seiner ganzen Philosophie - als seine Feindin ansah. So erwies sich dieses grösste Ereignis seines Jahrhunderts für den Denker des nächsten Dezenniums bloss als Epiphänomen: "Fortsetzung des Christentums durch die französische Revolution. Der Verführer ist Rousseau..."11

Uns scheint, dass man die Erklärung zu dieser erstaunlichen Reihe (Christentum-Rousseau-Sozialismus) aufgrund dessen finden kann, was in unserem Versuch ausgearbeitet worden ist. Alle drei (Christentum, Rousseau, Sozialismus) delegitimieren durch ihr neues Freiheitspotential die ganze bestehende Wirklichkeit (Gesellschaft) ihrer Zeit. Durch so eine radikale Delegitimierung geraten sie - nolens - volens - in eine Position, dass sie eine neue, bessere Alternative versprechen. Nietzsche meint, dass diese Versprechen unbegründet sind. Von nun an erscheinen iese Bewegungen in Nietzsches Augen so, dass er sie mit einem gewissen Verdacht des unbegründeten Versprechens ansprechen kann.12

Die spezifischen Schwierigkeiten in der Interpretation der Anerkennungsproblematik treten vor allem in der Enträtselung ihrer Semantik auf.13 Rousseau wünschte zwei gewaltige philosophische Intentionen zu vereinen, die sich in der gesamten späteren Entwicklung der Philosophie miteinander nicht gerade harmonisch vereinigen liessen. Umgekehrt formuliert, kann man auch sagen, dass er zwischen diesen beiden gewaltigen Richtungen nicht "wählen" konnte.

Fragt man nach den konkreten Beschaffenheiten dieser beiden umfassenden Ansätze, wird man geneigt sein, Rousseau zu verstehen, zwischen einer positiven Beschreibung der philosophischen Gegenständlichkeit und einer Praxisphilosophie wählen zu können. Momente dieser "zwei Seelen" von Rousseau wurden und werden in der philosophischen Tradition von Zeit zu Zeit erkannt und identifiziert. Immerhin ging es bei ihm um einen Denker des achtzehnten Jahrhunderts und der Aufklärung, als die Entstehung der neuen systematischen Philosophie noch ihren Anfang nahm, so akzeptierte man diese Dualität bei Rousseau immerhin leichter als es bei späteren Vertretern dieser Einstellung der Fall gewesen ist. So akzeptiert man bis heute bei Rousseau, dass er nicht bereit war, das Ideale von dem Wirklichen, das Selbstbewusstsein vom Sein oder das Bewusstsein von der Substanz zu trennen.

Diese Vereinigung des Unvereinbaren (positiv-philosophische Beschreibung der Wirklichkeit + eine Philosophie für die praktische Veränderung der Wirklichkeit) erschien also im achtzehnten Jahrhundert noch viel selbstverständlicher als es etwa im neunzehnten, geschweige denn im zwanzigsten Jahrhundert der Fall gewesen ist. Trotzdem muss sehr deutlich gesagt werden, dass diese Alternative der Philosophie im wesentlichen dadurch möglich wurde, dass die Anerkennungsproblematik in der Tiefe auch von Rousseau's Philosophie enthalten war. Denn die Anerkennung bietet eine Denkweise, die es in den meisten Fäellen ermöglicht, dass die positive Beschreibung eines "Ist"-Zustandes mit der Ausarbeitung eines "Soll"-Zustandes homogen vereinbar wird.

Es heisst, dass die Anerkennung in die allertiefste Schicht der philosophischen Theoriebildung vorandringen kann, sie ist fähig, das Sein und das Sollen in einem Medium zu vereinen.

Es gab aber in dem so vollständigen Vertikum der Anerkennungsproblematik aber auch andere Motive. Wie könnte ein Rousseau zu keinem engagierten Forscher dieser Problematik werden, wenn Friedrich II. an Voltaire die folgende "Anerkennung" adressieren konnte: "Geniessen Sie noch lange den Ruhm in dieser Welt, wo Sie über Rivalität und Neid triumphieren; überströmen Sie uns in Ihrer Abenddämmerung mit jenen Strahlen von Geschmack und Genie, die allein Sie aus dem Jahrhundert Ludwigs XIV., dem Sie so sehr angehören, weitergeben können; ergiessen Sie diese Strahlen über die Literatur, hindern Sie sie daran zu verkommen..."14

Note

1 S dazu noch: Axel Honneth: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1992. und Neuhouser, Frederic, Pathologien der Selbstliebe: Freiheit und Anerkennung bei Rousseau. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2012 Lagerort: T-34

2 Anders gesagt: Diese Situation signalisiert den aktuellen Stand der systematischen Philosophie als eines Systems!

3 Diese Einsicht ist sowohl wegen der gewaltigen heuristischen Dimension der Hegelschen Auffassung, wie auch wegen der bis heute noch nicht exakt ermessenen historischen Bedeutung vollkomment legitim. Es kann aber auch noch beim Bestehen dieser Tatbestände nicht heissen, dass deshalb Hegels Auffassung der Anerkennungsproblematik als das Grundmuster dieser Problematik im Status einer Theorie aufgefasst werden dürfte.Hegels positive Befangenheit zu Diderot's Jacques et so maitre weist einen interessanten Weg ins achtzehnte Jahrhundert. Charakteristischerweise existiert dieses Werk auf deutsch unter dem Titel: Jacques, der Phatalist! Es zeigt, dass die Anerkennungsproblematik gleich aus dem Ttel verbannt ist. Ein kurzes Zitat aus einem als unbekannt geltenden Hegel-Aufsatz: ".man sehe Diderot's Jacques et so maitre, der Herr tut nichts als Prisen Tabak nehmen und nach der Uhr sehen, und lässt den Bedienten in allem Übrigen gewähren." S. "Wer denkt abstrakt? in: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vermischte Schriften aus der Berliner Zeit. Mit einem Vorwort von Hermann Glockner. Stuttgart, 1930. (Fr. Frommanns Verlag, H Kurtz). S. 450.

4 Da der auktoriale de Sade der Fiktion gemäss nicht identisch mit seinen bewusst libertinistischen Protagonisten (und Protagonistinnen) ist, ist es nicht leicht, dieses Moment bei den Romanen selbst nachzuweisen. Statt dessen führen wir ein kurzes Zitat aus der Gedächtnisrede de Sades über Marat an: "Man sagt, die Selbstsucht sei die Grundlage aller menschlichen Handlungen.Oh, Marat Deine erhabenen Taten entziehen Dich völlig diesem allgemeinen Gesetz!" S. Donatien Alphonse Francois Marquis de Sade, Ausgewählte Werke 2. Herausgegeben von Marion Luckow. Hamburg, 1962. (Fischer),329.

5 Es heisst, dass die Anerkennungsproblematik bei Rousseau durchgehend den realen Hintergrund für so umfassende Konzepte wie "Natur", "Zivilisation" oder "Mensch" steht.

6 Voltaire, Korrespondenz aus den Jahren 1749 bis 1760. Herausgegeben von Rudolf Noack , aus dem Französischen von Bernhard Henschel, Leipzig o.J., (Philipp Reclam junior). S. 100.

 

7 Auf interessante Weise verbindet Moses Hess, auch als eine hierin durchaus kompetente Persönlichkeit, den Frühkommunismus mit Rousseau: "Diese erste Gestalt (Baboeuf - E.K.) des Kommunismus ging unmittelbar aus dem Sansculottismus hervor. Die Gleichheit, welche

Baboeuf im Auge hatte, war daher eine Sansculottengleichheit, eine Gleichheit der Armut. Luxus, Künste und Wissenschaften sollten abgeschafft , die Städte zerstört werden; der Rousseausche Naturzustand war das Phantom, das damals in den Köpfen spukte." Moses Hess, "Sozialismus und Kommunismus". in : M.H. Ausgewählte Schriften. Wiesbaden, o.J. (Fourier). S.157.

8 Es wird hier die erste deutsche Ausgabe zitiert, dementsprechend ist auch die alte Schreibweise angeführt. S. Aemil oder von der Erziehung. Dt. Übers. o.N. Frankfurt und Leipzig, Buch I. S.4.

9 Es gibt zahlreiche Beispiele dafür, dass nach Rousseau (und sinngemäss auch generell nach der Aufklärung) die Begründung jedes politischen und ethischen Systems ausschliesslich nur von der Annahme der prinzipiellen und unbegrenzten menschlichen Freiheit möglich war. Ein Beispiel dafür liefert die Ethik Kants, deren freiheitliche Ausgangspositionen weit über die realen Verhältnisse der konkreten Gesellschaft hinausgingen. Auf einer ähnlichen Basis soll hervorgehoben werden, dass Rousseau's Wirkung auf Hegel auch unabhängig von der Anerkennungsproblematik eine sehr relevante ist, hier soll jene Dimension hervorgehoben werden, in welcher die "formale" Dialektik des Denkens durch Rousseau's zahlreiche Ideen der "Realdialektik" Hegel auf seinem Wege hätten helfen können.

10 Wir schliessen nicht aus, dass gerade das, was wir hier unter "strukturellem Revolution ä ertum" verstanden haben, bei Isaiah Berlin als "revolutionary reorganisation of society" durch Rousseau beschrieben wird. S. I.B., Against the Current: Essays in the History of Ideas. Pimlico, 1979. (Hogarth Press). 20.

11 Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Berlin - New York, 1967-1977. Band 11, S.61.

12 Hinter mehreren kritischen Akten Nietzsches steht dieses Motiv (so beispielsweise hinter seiner Kritik am Sozialismus).

13 Der hier gemeinte Sinn der philosophischen Semantik laesst sich in diesem Versuch nicht voll ausführen. Seine wesentliche Bestimmung ist, dass die Legitimation der philosophischen Sprache (des philosophischen Diskurses) entweder "von unten" nach gewissen legitimierenden Kriterien oder "von oben" auf dem Wege einer in Bewegung gebrachten philosophischen Terminologie erfolgen kann, wobei in diesem zweiten Fall die Philosophie verpflichtet ist, ihre eigene Legitimation im Zuge ihrer eigenen Ausführung zu vollenden. Über diese Problematik s. vom Verf. die folgenden Arbeiten: Über die Funktion der Semantik als gemeinsamer Hintergrund zwischen Phänomenologie und Postmoderne. in: Prima Philosophia. Band 19, Heft 1. 2006. 5-21. Ferner: Über die Funktionen der Semantik als gemeinsamer Hintergrund zwischen Phänomenologie und Postmoderne. in: Acta Universitatis Palackianae Olomucensis Facultas Philosophica. Philosophica - Aesthetica 29. Philosophica VI. - 2005. Olomouc, 2005. 263-276. und Szemantika és tipológia a filozófiában. in: Pro Philosophia Füzetek, 38. szám, 2004. 103-115. und c3.hu/-prophil/profi042/Kiss.html.

14 Voltaire - Friedrich der Grosse, Briefwechsel. Herausgegeben und übersetzt von Hans Pleschinski. München, o.J. (Hanser). S. 572.

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